08.06.23

 Jesus ist das Selfie Gottes.

Bescheidene Wünsche

Dass kein Geld zum Essen morgen fehlt,
dass die Immobilienfirma nicht
uns vertreibt um Schulden ungezählt.
Dass bis Montag noch reicht Holz und Licht.
Dass der Sturm und Regen schnell vergeht,
und die Sonne trocknet was ist nass.
Dass mein Kind den Drogen widersteht.
Dass aus der Verzweiflung nicht wird Hass.
Dass der Mann mich nicht zu oft hart schlägt,
dass mein Sohn nicht lang im Knast mehr bleibt.
Dass zur Tochter noch kein Mann sich legt,
nicht vor sechzehn ihr ein Kind verschreibt.
Dass die Henne heute legt ein Ei,
fremde Kühe fressen nicht mein Korn.
Dass wir weiter alle bleiben frei.
Nächstes Jahr beginnen wir von vorn.

16.08.12

Biografische Kohärenz oder fehlende Entwicklung?

Was ist es, wenn man sich mit 37 Jahren vollständig verstanden fühlt, in einem Gedicht dass man selber vor rund 20 Jahren geschrieben hat? Wenn das damalige Machwerk trotz seiner literarischen Beschränktheit, doch die eigenen Empfindungen über den heutigen Alltag wiedergibt?
Auf jeden Fall entstand es damals in einer Phase der Trunkenheit von Fritz Senn (nicht dem Schweizer, sondern dem russischen). Was ich ihm literarisch schulde, weiß ich nicht. Aber persönlich hat er mir geholfen, mich meiner Herkunft nicht zu schämen. Mitten im Chacobusch weckte er in mir eine völlig unverständliche, wohl biologisch ererbte Sehnsucht nach ukrainischer Steppe... Und das, obwohl schon mein Vater in Paraguay geboren ist!

Mit festem Schreiten
Mit trotzigem Blick
Wolln wir fürs Gute streiten
Wir kennen kein Zurück

Mit müdem Schleichen
Noch immer ohne Ruh
Wir uns die Hände reichen
und ziehn dem Ziele zu

So gehn wir durch dies Leben
Darin wir Pilger bleiben
In dem wir alles geben
Bis das sie uns vertreiben

Mit Schweiß und harten Händen
Die Heimat wir gestalten
Gott wird es schon so wenden
Dass Andere erhalten

Es kann für uns nicht sein,
Dass wir etwas besitzen
Womit wir, noch so klein
Nicht Andern sollen nützen

Wir mühn uns für das Leben
Und ringen um die Welt
Obwohl sie nichts kann geben
Was morgen nicht zerfällt

Das ist uns Fluch und Segen
Bringt Müh und Lasten viel
Wir wolln die Welt bewegen
Die selbst nie war das Ziel

Denn es geht nicht ums Haben
Wir suchen was viel schwerer fällt
Pfunde nicht zu vergraben
Zu dienen da wo Gott uns hält

Ihm dienen wir und nicht den Menschen
Das ist die Quelle unsrer Kraft
Das ists - nicht unser Wolln und Wünschen -
Was durch uns Menschen Heimat schafft

Wir plagen uns auf Erden
Da wir den Auftrag sehn
Damit es viele werden
Die mit uns weitergehn

11.05.12

Heidelberger Statue zwischen Rathaus und Kirche





Der Herakles steht cool beschissen
auf seiner stolzen Säule hier.
Der Löwe wird sein Fell vermissen,
die Tauben rächten weiß das Tier.

27.04.12

50 Wege um eine Antwort auf unsere Gebete zu sein.

Eine tolle Liste, wie sie die Leute von SimpleWay hier veröffentlicht haben. Mich erschreckt, warum eine Reihe der Dinge in der Bibel stehen und ich sie trotzdem noch nie gemacht habe. Überhaupt hab ich nicht viele von den 50 Punkten schon mal probiert.
Mal sehen, womit wir als nächstens weiterprobieren. Die ganze Liste auf Englisch findet sich HIER.
Nachfolgend nur eine kleine Auswahl übersetzt.


1. Faste für die 2 Millionen Leute, die von weniger als einem Dollar am Tag leben.
3. Frage deinen Pastor, ob jemand auf der Krankenliste deiner Gemeinde einen gerne einen Besuch hätte.
4. Nimm an einem Treffen der Anonymen Alkoholiker frei und freunde Dich mit einem der Teilnehmer an.
5. Adoptiere ein Kind.
6. Mähe das Grass deines Nachbarn.
7. Melde dich freiwillig einem Kind aus deiner lokalen Grundschule Nachhilfeunterricht zu geben. (Versuche die Familie des Kindes kennen zu lernen.)
8. Züchte deine eigenen Tomaten – und teile sie mit anderen.
9. Bitte eine kleine Gruppe in deiner Gemeinschaft, sich regelmäßig mit Dir zum Gebet zu treffen.
12. Pflanze einen Baum.
14. Organisiere eine Geburtstagsparty für eine Prostituierte.
15. Wenn Du Deine Wasserrechnung bezahlst, bezahle die für deinen Nachbarn mit.
20. Beginne, 10 % Deines Einkommens dirket für die Armen zu geben.
24. Verzichte ein Jahr aufs Fernsehen. Oder mach aus deinem Fernseher einen Blumentopf.
25. Lache über Werbung, besonders über solche, die Dich lehren will, dass man Freude kaufen kann.
32. Geh ins Altenheim und hole eine Liste aller die keinen Besuch bekommen. Besuche sie wöchentlich, erzähl Geschichten, lest gemeinsam die Bibel oder spielt Tischspiele.
38. Versuche das Wasser aus dem Waschbecken für die Klospülung wiederzuverwerten. Erinnere dich an die 1,2 millionen Menschen, die kein sauberes Wasser haben.
40. Kaufe für ein Jahr nur gebrauchte Kleider.
43. Is seine Woche lang nur eine Schale Reis pro Tag um dich an jene zu erinnern, die das den größten Teil ihres Lebens machen (nimm Multivitamine). Denk an die 30.000 Personen die jeden Tag wegen Armut und Unterernährung sterben.
48. Bekenne jemandem etwas, das Du falsch gemacht hast und bitte ihn, für Dich zu beten.
50. Beteilige Dich an einem Gefängnissgottesdienst. Erinnere Dich, dass Jesus versprochen hat, Dich dort zu treffen (Mathäus 25).

16.04.12

Wir müssen verrückt sein, so zu leben

Das Buch von Claiborne ist genial!! Und Gottes Führung auch. Kaum hatten wir einen Schritt unternommen, der uns und andere ernsthaft an unserer geistigen Integrität zweifeln ließ, leiht mir jemand dieses Buch und bestätigt Leoni und mir, dass es ok ist, verrückt zu sein.

Seid voriger Woche haben wir zwei neue Pflegekinder auf unbestimmte Zeit, 6 und 14 Jahre alt. Nachdem die Kinder jetzt vor ihren Eltern in Sicherheit sind, suchen wir nach Lösungen für die Mutter... Als ich von nahestehenden Personen sehr eindrücklich gefragt wurde, ob wir das auch alles schaffen werden, konnte ich nur zugeben, dass ich keine Ahnung habe. Muss ich ja auch nicht, denn fürs Schaffen ist ein anderer zuständig. Ich darf das nur nicht immer vergessen!!! Kleine Übung in "Auf-dem Wasser-gehen" gefällig? :-)

Hab meinen viel zu großen und nicht nur deshalb viel zu unordentlichen Schreibtisch verschenkt, ebenso wie einen guten Teil jener Bücher, die ich sowieso nicht lese. So konnte ein Bücherregal durch ein weiteres Zweistockbett ersetzt werden. Im ehemaligen Büro schläft jetzt unsere gebeutelte "Freiwillige". Dann haben wir ein Jungenzimmer mit drei Jungs in zwei Betten und ein Mädchenzimmer mit zwei Mädels, die aber meist auch nur eines ihrer zwei Betten benutzen. Aber da soll ab nächstem Jahr auch unser Baby rein. Dann ein Teeniezimmer mit einem Mädel - ihr Bett könnte man noch ausziehen, falls sich weibliche Gäste bei uns anmelden wollen. Leoni und ich schlafen Gott sei Dank noch in einem Bett, und manchmal sogar die ganze Nacht ohne irgendwelche anderen Bettflüchter. Ohne Schlafplätze bleiben die beiden Toiletten, die Wohnküche, und die Abstellkammer. Im Wohnzimmer ist Raum für Gäste auf dem Sofa oder auf einer Notmatratze. In den vergangenen 7 Tagen haben schon zwei Gäste hier geschlafen und keiner hat sich beschwert - sprich, ein bis zwei Personen können uns auch weiterhin besuchen. Nur beim Essen müssten dann einige augelagert werden, da wir beim Abendessen als 9 ständige Mitbewohner nur so gerade noch an unseren Tisch passen.

In der Hoffnung, weiter verrückt zu werden, warten wir auf den großen "Verrücker"! (Und damit meine ich nicht in erster Linie unser Baby, dass im August geboren werden soll.)

12.03.12

Was war eher, die Worte oder der Satz?

Bisher fand ich das immer eine einfache Frage. Natürlich lernen alle Kinder erst einzelne Worte und dann stellen sie diese irgendwann zu Sätzen zusammen. So war es bei unseren drei Kindern. Nicht jedoch so unser Pflegekind. Seit es mit fast zwei vor einem halben Jahr zu uns kam, hatte man den Eindruck, dass es ganze Geschichten erzählen konnte, nur habe ich meist kein Wort verstanden. Inzwischen erkenne ich, dass er sehr wohl Sätze formuliert, von denen ich aber noch nicht immer jedes Wort verstehe, da seine Aussprache unglaublich verwaschen ist. Er versteht fast alles, was wir sagen, kann aber noch nur ganz wenige Worte halbwegs korrekt aussprechen. Aber langsam, Schritt für Schritt verwandeln sich seine Kauderwelschsentenzen in Abfolgen erratbarer Silben die sich zu immer sinnvoleren Sätzen zusammenfügen. Der Eindruck ist eindeutig, als sei in diesem Fall der Satz als das Große Ganze vor den Worten erfasst worden. Äußerst faszinierend!

24.02.12

Dem Magus im Norden

Satte Lust, gepflegter Schmerz
brachten mich zum Kreuz des
Südens, weiter, himmelwärts,
bis ich Löwe Heu ess.

Wer nichts fühlen kann berührt,
bis durchdringt Erkenntnis
die zur letzten Wahrheit führt
Leben, Wort, Verständnis.

Samen sinkt in stummes Land
schreibt Natur, Geschichte,
Buch der Bücher zeugt die Hand -
Ursprung der Gesichte.

22.02.12

Morgen

Nächstes Jahr soll hier ein neuer Präsident gewählt werden. Der Kampf um den Chefsessel hat längst begonnen. Unter anderem durch Landbesetzungen, Streiks, soziale Unruhen, aufstachelnde verbale Gewalt, Habgier auf der einen Seite, Neid auf der anderen... Da werden ganz alte Texte wieder aktuell, seinerzeit hier erschienen.


Tapfer singt die alten Lieder
gegen neuer Zeiten Hass,
faltet Hände fest dawider,
trocknet Augen, tränennass.

Blutig graut ein toter Morgen
bleiern sinkt der alte Tag
Werft von euch Macht, Geld und Sorgen
aufersteh wer schlafend lag!

Hebt die Häupter, die Erlösung
kommt in tiefster Mitternacht,
und dann kommt die letzte Lesung:
Wer wo wen ums Recht gebracht.

Nicht die Panzer unsrer Herzen
werden uns den Sieg ersteh'n.
Wer den Feind liebt, wird trotz Schmerzen
durch den Tod zum Leben geh'n.

Der durch uns am Kreuz gestorben,
starb für seiner Mörder Last,
hat auch sie mit Lieb umworben,
lädt auch uns zum Fest als Gast.

20.02.12

Entkleidung und Verklärung

Lese seit einiger Zeit "Johann Georg Hamann" von Josef Nadler. Dieser Freund sowie Gegner Imanuel Kants und Lehrer als auch Freund Johann Gottfried Herders fasziniert mich ungeheuer. Wer das nicht verstehen kann, muss nicht weiterlesen. Ich hab auch einige seiner Schriften und will mich demnächst daran wagen sie zu lesen, aber ohne Einleitung und Hilfestellung bin ich zu unbelesen um irgendwas zu kapieren. Hamann kritisierte den aufklärerischer Kult der Vernunft von der Vernunft und der Philologie her. Gut hebräisch versteht er "erkennen" in engem Zusammenhang mit der Geschlechtlichkeit des Menschen, ein Zusammenhang der sich z.B. noch in der deutschen Doppeldeutigkeit von "Sinnlichkeit" erhalten hat. Eine solch „sinnliche“ Vorstellung von Erkenntnis passt natürlich überhaupt nicht mit dem aufklärerischen Konzept einer zergliedernden, analytischen Vernunft als höchster Autorität zusammen. Ich weiß noch nicht, ob es Hamann war oder nur Nadlers Interpretation Hamanns, dass er entscheident nachgedacht hat, wie der geschlechtslose Logos aus sich die Schöpfung mit ihrer ganzen zwiespältigen Geschlechtlichkeit hervorbringen könne und wie wir, durch unser Geschlecht bestimmte Menschen, am Ende der Zeiten wieder in dem einen göttlichen Logos zusammengefaßt werden könnten. Auch wenn ich Hamanns Frontstellung gegen Kant teile, was in der Postmoderne sicher nicht mehr so out ist als dazumal, scheint mir zumindest in Nadlers Zusammenfassung eine Menge unter den Tisch zu fallen oder unstimmig zu bleiben.

1. Wo bleibt die Liebe, wenn wir schon von geschaffener Geschlechtlichkeit reden? Da fällt mir wieder Kurt Martis Mahnung ein, warum denn keine christliche Dogmatik aus der Liebe Gottes entfaltet wurde.

2. Sobald ich aber den misteriös-mystischen und dennoch unleugbaren Zusammenhang von Liebe und Geschlechtlichkeit in die Gedanken miteinbeziehe, taucht die Frage auf, wie ein Gott der Liebe denn als geschlechtsloses Logos gedacht werden könnte (schon grammatisch ist es „der Logos“!). Damit will ich nicht sagen, dass Gott männlich oder weiblich ist. Vielmehr sind beide nach Gottes Bilde. Aber was wäre z.B., wenn männlich und weiblich vielleicht zusammenfielen in dem noch faszinierenderen Gegensatz menschlich und göttlich? Oder ist der Gedanke gotteslästerlich?

3. Wie soll ich mir einen Himmel vorstellen, der unsere Fähigkeit zu erkennen aufhebt? „Dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ 1. Korinther 13,12. Warum sollte ich den Himmel als einen Ort annehmen, an dem eine der genialsten Ideen Gottes keinen Raum hat? Und das, obwohl wir an eine Auferstehung des Leibes glauben, wenn auch verwandelt und überarbeitet? Und wo bliebe dann unsere Ebenbildlichkeit in Bezug auf Gottes Kreativität?

4. Alle christliche Annahme, dass die Geschlechtlichkeit es nicht bis in den Himmel schafft, beruft sich meines Wissens nur auf Matthäus 22,30: „Denn in der Auferstehung werden sie weder heiraten noch sich heiraten lassen, sondern sie sind wie Engel im Himmel.“ Darf im Rahmen der Bibel nicht gedacht werden, dass es dabei nur um die Aufhebung der Institution Ehe, nicht aber der Geschlechtlichkeit gehen könnte? Ist nicht die Institution der Ehe später als die Schöpfung des Geschlechts? Wenn es Sexualität vor dem Sündenfall und damit vor der Scham gab, wie in Genesis 2 und 3 zu lesen, warum sollte es nicht auch in der neuen Schöpfung sündlose Geschlechtlichkeit geben?

5. Die Aufhebung der eigenen Geschlechtlichkeit als Ziel des Christseins? Das ist dann doch wohl vielmehr gnostisch als christlich oder gar hebräisch.

Fazit:
Ich weiß nicht, wie es ist. Ich weiß auch (noch) nicht, ob mein Eindruck auf Hamanns Erkenntnissen beruht oder auf Nadlers Interpretation derselben. Aber befriedigend finde ich die vorgestellten Konzepte von Gott, von der Ewigkeit und von dem Ziel des Christseins nicht. Wenn dagegen Liebe und Beziehungen als Ausgangspunkte der Reflektion gewählt werden, dann muss auch Gott nicht sosehr den absoluten und apriorischen Begriffen Kants ähneln, dann darf er auch unvernünftig sinnlich sein, so dass Mitleid sein Herz bewegen und sein Urteil ändern kann. Und dann ist auch das Christsein gegen die Gefahren der Gnosis besser geschützt. „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist!“

Sollte irgend ein Hamann-Kenner über Google auf diesen Eintrag stoßen, würde ich mich über „Aufklärung“ enorm freuen!! Aber auch alle andern Kommentare sind herzlich willkommen.

Hallo Welt

Nach "einem Jahr ohne", bin ich nun wieder zurück unter den Bloggern. Nach dieser geistigen und geistlichen Diät komm mein Gehirn langsam wieder auf eine Frequenz, wo ich Lust daran habe mich andern mitzuteilen. War es nicht Wittgenstein der sagte: "Worüber man nichts sagen kann, dazu soll man schweigen"? Es gibt immer mehr Dinge zu denen mir die Worte fehlen und das will ich dann nicht beschwätzen. Sollte wieder erwarten noch jemand meiner ehemaligen Leser mal wieder auf diesen Blog stoßen: Entschuldigung!! Gestern kam mir ein Gedanke, den ich unbedingt mitteilen wollte, und wo, wenn nicht hier. Also, dazu mehr im nächsten Post.

13.12.10

Warum ich (immer noch) Christ bin II

Wenige Stunden nach der Anfrage für diesen Artikel habe ich schon eine erste Version zurückgeschickt. Mit viel Eifer geschrieben, voller Leidenschaft. Erst Wochen später wurde mir klar, dass die Leidenschaft weniger aus Überzeugung entsprang, sondern aus dem Ärger über die Frage. Nicht dass ich die Frage hier beantworten darf hat mich geärgert – ganz im Gegenteil. Sondern dass die Frage an und für sich so selbstverständlich klingt, so naheliegend. Als würde man mich fragen, warum ich (immer noch) verheiratet bin. Fürs Christsein braucht man halt gute Gründe. Warum wird nur sehr selten jemand gefragt, warum er (immer noch) KEIN Christ ist? Erscheint es soviel logischer, wahrscheinlicher, kein Christ zu sein? Die Frage drückt für mich die Überzeugung unserer Zeit aus, dass Christsein dochwohl sogut wie überholt sei, kurz vor dem Schlussverkauf seines Tafelsilbers. Die Ratten haben das sinkende Schiff verlassen. Wie kann man denn nach zwei Weltkriegen, nach dem Holocaust noch an Gott glauben? Oder wie kann man angesichts des enormen wissenschaftlichen und technischen Fortschritts noch an Gott glauben? Wer keinen Facebook-acount hat, den gibt es nicht.
Aber warum sollten wir die Frage nicht umdrehen: Wie kann man nach zwei Weltkriegen, nach Holocaust und Ruanda, wie kann man angesichts von Irakkrieg und Somalia nicht an Gott glauben – und weiterleben? Die verzweifelte Lage unsrer Welt dient schnell als Argument gegen Gottes Güte oder Allmacht, solange ich danach wieder in mein sichres Apartment gehen kann, ohne schlimmere Ängste als die vor Übergewicht einschlafe und vorher noch meinen nächsten Auslandsurlaub plane. In einem europäischen Sozialstaat ist es verhältnismäßig leicht, an den technischen Fortschritt zu glauben. Der Rechtsstaat erleichtert es enorm, an die grundsätzliche Entwicklung des Menschen zum Besseren zu glauben. Sich bei der Tagesschau fünf Minuten über den Zustand der Welt aufzuregen und Gott für die ganze menschliche Misere verantwortlich zu machen erinnert nicht zufällig an die Hassmantras in Orwells „1984“. Aus der Distanz weiß man natürlich leicht, wer an allem Schuld ist. Wer sich aber dem Elend, der Korruption, der systematisch betriebenen Verdummung ganzer Völker, der Ausbeutung und Unterdrückung annähert, dem bleiben einfache Losungen schnell im Hals stecken. Wer heute konsequent nicht zulässt, vom Leid dieser Welt abgelenkt zu werden, wer sich auf Dauer der beruhigenden, einlulenden „Unterhaltung“ verweigert, für den sehe ich nur wenige Möglichkeiten: Entweder er verliert den Verstand ob der absoluten Sinn- und Hoffnungslosigkeit des Menschseins. Oder er beendet sein Leben von eigner Hand, in dem verzweifelten Versuch ein letztes Statement für die Würde des Menschen, für seine Entscheidungsfreiheit zu setzen. Oder er stürzt sich doch noch in irgendeine Form von Ablenkung, findet irgendeine Ausrede warum nicht alles ganz so schlimm ist wie es scheint und lernt mit dieser Lüge zu leben, bis dass der Tod sie scheidet. Oder er wagt es, wider die gesammelte Unvernunft dieser Welt an etwas Anderes zu glauben. Zum Beispiel an Einen, der stärker ist als der allgegenwärtige Tod. An Einen, der weiser ist als die eine Allerweltsmeinung, die wir uns alle „persönlich“ gebildet und bebildert haben. An Einen, der gerechter ist als all unsere politisch korrekt ausbalancierten Be- und Verurteilungen. An eine Liebe die man nicht macht, sondern die Macht hat, alles anders zu machen. An Einen, der verrückt genug ist, freiwillig auf diese Welt zu kommen - als Kind in ein besetztes Land, als Mensch unter die Bestien nach seinem Bilde. Viel schwerer als an Gott zu glauben erscheint es mir heute, immer noch an uns Menschen zu glauben. Das gelingt mir nicht mehr ohne die ständige Hilfe dieses Gottes, der wie kein anderer, immer noch, an die Menschen glaubt. Nur an Gott glauben, dass lehrt vielleicht auch eine Religion. Aber von Gott lernen, wieder an den Menschen zu glauben, Hoffnung inmitten alltäglicher Verzweiflung, Zukunft trotz des letzten Klimagipfels oder Friedensprozesses oder Resolutionsmaratons, dass finde ich nur bei jenem Einen, nach dem ich mich Christ nenne.
Sicher, es gibt genug negative Beispiele von Christen die geizig, unsensibel, verbohrt und lieblos sind. Und es gibt auch Beispiele von vernünftigen und hilfsbereiten Nichtchristen. Aber das eine wirkliche Hinwendung zu Christus die Menschen nicht lebensfähiger, einsichtiger, solidarischer, weiser und liebevoller macht als sie vorher waren, dazu fällt mir kein Beispiel ein. Vielleicht bin ich neben vielen andern Gründen auch deshalb immer noch Christ, weil mir scheint, als mache Christsein die Menschen menschlicher. Beileibe nicht perfekt, aber dennoch ihrem Vorbild entsprechender.

Unsere Welt