03.06.08

Fegefeuer

An einem Montag Abend brachten wir Herrn R. ins Uniklinikum. Seit zwei Wochen krank, völlig auf sich allein gestellt siechte er in seiner zwei-Zimmer-Höhle vor sich hin. Zu krank zum Aufstehen, zu dehydriert um einen klaren Gedanken zu fassen, zu allein um zu überleben. Ein Nachbar hatte ihm in den letzten zwei Tagen Essen gebracht aber er erholte sich nicht mehr. Dann also abends um 7 das, was man nur im allerletzten Fall tut: zum Arzt. Wir führten ihn ins Auto, wir stützten ihn aus dem Auto ins nationale Krankenhaus von M.R. Alonso. Nach einiger Wartezeit und etwas Fiebermessen und Pulsfühlen wurden wir weggeschickt. Nur ein Gynäkologe hatte Notdienst. Das der hier nicht gefragt war hätte ich glatt ohne Thermometer diagnostizieren können.

Auf ins Uniklinikum. Wir schoben Herrn R. ins Auto, fuhren die 20 km und zogen ihn in die Notaufnahme. Es war um 8 an diesem denkwürdigen Abend. Wartezimmer voller Leute. Auf einer Bank liegt ein junger Mann, sein Vater hält ihm den Infusionsbeutel. Nach zwei Stunden liegt er immer noch da. Wir warten. Wir gehen rum, spielen mit unseren Handys, erkundigen uns nach allem möglichen, essen was, trinken was, spuken es wieder aus. Wir warten. Eine Frau gibt uns ein Blatt Zeitung um das ausgespukte aufzuwischen. Herr R. muss aufs Klo. Ich halte ihn auf dem Weg um 3 Ecken, durch ein vollgestopftes Notfallzimmer dass die ganzen Ausmaße menschlicher Zerbrechlickkeit in jedem Bett belegt. Dazwischen Schwestern, Verwandte, Ärzte und solche die es werden wollen. Fast wären wir im Schwesternzimmer gelandet, dann doch im Klo. Herr R. versucht die Pfützen auf dem Boden mit einem Schrubber zur Seite zu wischen. Seine Würde hält ihn aufrecht. Ich lass ihn allein und noch kann er aufstehen.
Rückweg ins Wartezimmer. Das Schild über der Tür mit dem schönen Wort "Urgencias" hat jede Bedeutung verloren. Der Wind pfeift durch die offene Tür, der Ventilator eiert. Herr R. hustet, wir warten. Herr R. liegt auf einer Holzbank, den Kopf an die versiffte Wand gestützt. Auf Nachfrage heißt es immer: Bald! Später dann die Auskunft, es sei kein Bett frei. Wir warten auf ein Bett, darauf dass jemand stirbt oder entlassen wird. Oder verlegt. Ich überlege kurz, reinzugehen und jemanden gesundzubeten. Mein Begleiter und ich sind schon reichlich im Schock, fangen an über alles mögliche zu lachen. Das wundert niemand unserer Gefährten in dieser Vorhölle. Um 23:30 darf ich Herrn R. in das zweite Notfallzimmer schleppen. Er darf auf einem hohen Hocker ohne Lehne sitzen. Es ist noch kein Bett frei. Neben jedem belegten Bett ein Verwandter. Die Ärtzin fängt mit der Befragung an. Herr R. ist stocksauer und will nicht antworten, "warum er denn gekommen sei"! Er windet sich auf seinem Hocker und fällt fast herunter. Ich erzähle was ich weiß. Nein, er ist nicht mein Vater.

Die Ärztin verschreibt Untersuchungen und schickt mich los. Mein Begleiter schläft im Auto. Ich stürze mich in die Gänge der Unterwelt, unendlich verweigte Gänge zwischen wild aufeinandergestapelten Häusern. Die in wildem Zickzack verlaufenden Gänge gegen Regen überdacht, links und rechts gelegentlich eine schwaches Neonschild das die Abteilung dieses Reiches der Halbtoten anzeigt. Auf allen Bänken unterwegs schlafen Menschen. Verwandte die ihren Patienten pflegen müssen und sich kurz etwas Ruhe gönnen. In einer dunklen Ecke ein Matrazenlager auf dem Fußboden. Assistenzärzte schwanken umher, man erkennt sie an ihren tief herunterhängenden Augenliedern. Dazwischen schlüpfrig grinsende "Bettenschieber" die sich in abgeschiedenen Ecken unterhalten. Es ist nach Mitternacht, Stunde der Geister. Ich gehe wie in Trance, gehe aus dem Haupteingang, über die Straße, finde den Sozialdienst, will die Tür aufbrechen und werde dafür von einer schlaftrunkenen Frau geschimpft, die mein Rezept stempelt und mir Ablaß gewährt. Ich suche die Kasse und wecke den Kassierer um ihm Geld zu geben. Mit der Quittung geht es wieder zurück in die Gänge des Grauens. Da, das Labor. Niemand da und ich finde keine Klingel. Die "Bettenschieber" behaupten aber, dass eine da ist. Ich weiter rein und fang an auf Schalter zu drücken. Da kommt jemand. Er will nur der Schwester geben was auf meinem Zettel steht. Ich sage, die Ärztin schickt mich und es sei mir ansonsten alles egal. Ihm auch und er gibt mir die Labordöschen die ich bringen sollte und irgendwelches Zeug das er wirklich nur der Schwester hätte geben sollen. Kaum hab ich zurück ins Notfallzimmer gefunden, werd ich zurück geschickt. Noch etwas holen. Wieder Sozialdienst, Kasse, eine der unzähligen Apotheken an der anderen Straßenseite die überwiegend Maria im Namen führen. Als ich der Ärtzin sage, dass ich gleich gehen werde, schaut sie mich ungläubig an. Ich kann den Patienten doch nicht hier allein lassen! Ich begleite ihn zum Röntgen. Wir haben einen Rollstuhl mit Chauffeur!! Aber noch kein Bett. Herr R. kann nicht mehr stehen, muss er für das Röntgenbild aber. Kaum verschwinden wir hinter dem Holzschutz (!), dreht er sich um und pinkelt in den Mülleimer. Er war zu schwach um zu sagen, dass er aufs Klo musste. Dann die Seitenaufnahme, mit erhobenen Armen. Er kann nicht mehr! Er will die Arme nicht heben, weil ihm dann die Hose runterrutscht. Seine Würde zu wahren wird ihm unmöglich gemacht. Ich halte ihn an den Armen hoch während die Aufnahme von der Seite gemacht wird. - Ich wollte eh keine Kinder mehr.
In einem früheren Leben war er Landwirtschaftsingenieur. Er steht auf kultivierte Untrhaltung. Seine angegebenen 66 Jahre stimmen aber nicht. Als Geburtsjahr steht im Pass 1928. Chilene ist er, seit Allendes Sturz in Paraguay. Eine Schwester hat er noch in Chile, aber nur losen Kontakt. Atheist und Sozialist nennt er sich. Seit 3 Monaten kam er jeden Sonntag in die Kirche, nachdem ihm besagter Nachbar ein Büchlein gegeben hat. "Wenn euer Gott so ist wie da steht, dann will ich ihn kennenlernen" soll er in etwa gesagt haben.

Nach der Röntgenprozedur endlich ein Bett! Aber keine Decke. Er wickelt seine Füße in den Vorhang. Ich lasse ihn allein. Ich kann nicht mehr. Hoffentlich lässt Gott ihn nicht allein. Ich kann nur alle zwei Tage kommen, ihn kurz besuchen, Medikamente kaufen, zum Sozialdienst laufen. Auf der Neumologie behandeln Ärtze und Schwestern ihn gut. Er ist unterernährt, dehydriert und hat eine Lungenentzündung...

Jetzt ist er - nach zwei Wochen - wieder draussen, froh wieder in seiner Höhle zu sein, bei seinen zwei klapprigen Hunden und dem vielen Schimmelpilz, wo er sich am Feuer wärmt ohne das der Rauch einen Schornstein findet um abzuziehen. Das Wort Altenheim ignoriert er. Gemeindeglieder haben ihn besucht und mit ihm gebetet. Er sagt, dass das Beten ihm gut tut. Er ist grauenhaft einsam. Es ist kalt zurzeit. Ich weiß nicht, ob er diesen Winter überlebt. Ich mach mein Herz hart um es auszuhalten, ihn weiter zu besuchen.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

So genau ist es auch hier in China. Einfach schlimm. Und Schwestern, die sich um Patiente kümmern, gibt es nicht. Sogar das Essen müssen die Verwandte selber draußen kaufen und dem Patienten bringen. Ich frage mich immer wieder, was mit denen ist, die keinen Verwandten haben?! Ich glaube, in Europa ist man sich gar nicht bewußt, was für einen Luxus sie im Krankenhaus haben - oder in den Privatkrankenhäusern von Py oder im Chaco.
Jenny

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